Freitag, 23. Oktober 2015

Der Mann auf dem Seil



The Walk

Am Morgen des 7. August 1974 balancierte der französische Hochseilartist Philippe Petit zwischen den Türmen des World Trade Centers hin und her. Der Coup auf den Dächern der damals höchsten Gebäude der Welt zog ein gewaltiges mediales Aufsehen nach sich. 35 Jahre später erhielt Dokumentarfilmer James Marsh mit seiner filmischen Adaption des Stoffes sogar einen Oscar für Man on wire. Kultregisseur Robert Zemeckis wählt in seinem nun erscheinenden Spielfilm The Walk einen gänzlich anderen Ansatz der Erzählung und schenkt uns dennoch zwei Stunden pure Kinomagie. Im Gegensatz zur journalistischen Aufarbeitung der Geschehnisse in Man on wire, etabliert Zemeckis hier eine Larger-than- Life-Story aus der Sicht des Protagonisten. Joseph Gordon-Levitts Philippe Petit selbst darf dann passend dazu auch den gesamten Film auf der Spitze der Freiheitsstatue stehend als allwissender Erzähler begleiten. Für den Erschaffer moderner Klassiker wie Zurück in die Zukunft oder Forrest Gump bietet sich diese Herangehensweise natürlich an. Und so schafft es Zemeckis auch in The Walk mit technischer Brillianz und märchenhaft-leichter Erzählstruktur das Publikum über die kompletten 123 Minuten bei Laune zu halten. Besonders ersterer Aspekt wird dem Zuschauer jedoch dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Ohne jeden Anflug von Künstlichkeit lässt die Filmcrew nicht nur das World Trade Center in allen seinen Facetten, sondern dazu noch das unnachahmliche New Yorker 70's-Feeling auferstehen. Schon in seinem vorangegangenen Film konnte Zemeckis von seiner jahrelangen Pionierarbeit im Bereich des IMAX-3D-Verfahrens (Der Polarexpress, Disneys Eine Weihnachtsgeschichte) profitieren, doch die schwindelerregenden Aufnahmen von The Walk stellen selbst den beklemmenden Flugzeugabsturz aus Flight in den Schatten. Für Akrophobiker kann The Walk dann auch dementsprechend zu einer echten Herausforderung werden. Seine umwerfend schön eingefangenen Bilder dürften aber zweifellos jeden beeindrucken. Das Passing und die Entwicklung der Geschichte in The Walk sind hingegen noch ausbaufähig. Trotz einer verhältnismäßig opulenten Spieldauer schafft es der Film nicht seine Nebendarsteller (u.a. 24-Star James Badge Dale) adäquat ins Bild zu rücken. Lediglich Altmeister Ben Kingsley hinterlässt als Zirkusdirektor und Petits Lehrer Papa Rudy einen bleibenden Eindruck. Dazu hält sich der Streifen zulange mit der Biografie Petits auf. Die erste Stunde des Films (optisch großartig im Stil von Die fabelhafte Welt der Amelie gedreht) hat zwar zweifellos ihre Reize, streckt die Zeit bis zum atemlosen Finale von The Walk jedoch künstlich. Nichtsdestotrotz können die nahezu perfekten, letzten 45 Minuten des Films für all dies entschädigen. The Walk ist eine bildgewaltige und hochspannende Mischung aus Schelmenstück und Heistmovie und zugleich eine Hommage an New York City mit herrlich nostalgischem Swing-Soundtrack.

 8/10

Für Fans von: Man on wire, Die fabelhafte Welt der Amelie, Ocean's Eleven

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