Sonntag, 28. Februar 2016

Watergate in Boston



Spotlight

Viele Filme haben seit 1976 versucht sich als Erben von Alan J. Pakulas Die Unbestechlichen zu platzieren. Die Mutter aller Enthüllungsjournalismusgeschichten bleibt allerdings bis heute unerreicht. Auch Spotlight wird daran nichts ändern, der Kultfaktor von Die Unbestechlichen ist einfach zu groß. Doch wenn es ein Film schafft, legitimer Nachfolger der Erzählung um Bob Woodward und Carl Bernstein, dann Spotlight. Tom McCarthys Drama umgeht den Fehler, sensationslüstern und effekthascherisch vom Missbrauch katholischer Priester zu erzählen. Stattdessen rückt er vier Reporter in den Mittelpunkt des Streifens und erzeugt durch feine Beobachtungen, punktierte Dialoge und außergewöhnliche Schauspieler zugleich ein Psychogramm der amerikanischen Ostküstenstadt Boston sowie eine Hommage an den Wert der Printmedien und ihrer Unterstützer. Regisseur McCarthy und sein Drehbuchautor Josh Singer konnten sich bereits über viele Filmpreise freuen und werden wahrscheinlich auch noch einige Trophäen mehr einsammeln können. Durch die Konzentration auf die vier Protagonisten erlebt der Zuschauer die emotionalen Auswirkungen des Missbrauchsskandals deutlich realitätsnaher und nachvollziehbarer, als es der Fall gewesen wäre, wenn Spotlight die großen Mengen an Namen, Fakten und Ereignissen ungefiltert ausgegeben hätte. In Kombination mit den brillianten Akteuren rund um Michael Keaton, Rachel McAdams, Mark Ruffalo, Liev Schreiber und Stanley Tucci entsteht so großes und eindrucksvolles Kino ohne große und eindrucksvolle Mittel. Einen der Schauspieler besonders hervorzuheben, würde der Errungenschaft des gesamten Casts auch Unrecht tun. Drehbuchbedingt kommt Mark Ruffalo allerdings der zentrale, emotionsgeladene Part zu Gute, der sich bei mir besonders einbrannte. McCarthys Inszenierung ist angemessen zurückhaltend. Seine Story ist fesselnd genug, technische Spielereien wären fehl am Platz. Für eine elegante Kameraarbeit und einen präzisen Schnitt findet der Amerikaner dennoch Platz, weshalb Spotlight, der hauptsächlich in der Beengtheit von Archiven, Büros und Konferenzräumen spielt, auch optisch hervorragend gelungen ist. Dazu beweisen die Filmemacher bei der zeitgeschichtlichen Komponente ihrer Geschichte viel Feingefühl, wenn sie die Ereignisse rund um 9/11 (Spotlight ist im Jahre 2001 angesiedelt) absolut organisch und schockierend ehrlich ins Geschehen eingliedern. Ebenso vielschichtig gelang auch das Portrait der katholischen Kirche. Die Gemeinden sind bis heute ein zentraler Aspekt des öffentlichen Lebens in Boston, die Reporter zum Großteil Söhne und Töchter ihrer gläubigen Stadt. Der Einfluss der Kleriker hinter den Kulissen wird dadurch zugleich verständlich und bedrohlich. Fans pathosreicher Kriminalgeschichten sind in Spotlight sicher falsch aufgehoben. McCarthys Blick auf die Errungenschaften des klassischen Journalismus richtet sich definitiv an Freunde des vielschichtigen Erzählens und der starken Charakterbildung. Wer dies mag, wird 128 Minuten lang einer perfekt getimten aber unaufgeregten Sogwirkung ausgesetzt, die er so schnell nicht wieder vergisst. 

9/10

Für Fans von: Die Unbestechlichen, Zodiac, State of Play


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