Mittwoch, 16. Dezember 2015

Ein besondere Weihnachtsgeschenk



Carol

Bei den Filmfestspielen von Cannes gehörte Carol zu den Abräumern. Der Preis für die beste Schauspielerin ging an die britisch-amerikanische Koproduktion, ebenso konnten sich die Filmemacher über eine Palme in der Nebenkategorie Queer freuen. Todd Haynes neuster Streich wurde dazu mit minutenlangen Standing Ovations an der Côte d'Azur gefeiert. Seither erreichen uns nach und nach Kritiken aus allen Teilen der Welt, die Carol in den höchsten Tönen loben. Doch vermag das Liebesdrama auch das filmbegeisterte Publikum zu begeistern? Die Antwort darauf ist eindeutig ja! Carol vermittelt auf unaufgeregte Weise eine derartige Vielfalt an Emotionen, wie sie seltenst im Kino zu sehen ist. Weder Drehbuch, noch Regie, keine schauspielerische Leistung und kein technischer Aspekt an diesem Streifen offenbart wirkliche Schwächen, jeder Beteiligte schien mit ganzem Herzen einen außergewöhnlichen Film erschaffen zu wollen und doch ordneten sich alle dem Gesamtwerk unter. Carol erreicht somit eine fast makellose Vollkommenheit. Die erzählte Geschichte behandelt die aufkeimende Liebe zwischen einer wohlhabenden Dame und einer einfachen Verkäuferin im New York des Jahres 1952. Mit Oscargewinnerin Cate Blanchett kann Carol in der titelgebende Hauptrolle mit einer echten Idealbesetzung auftrumpfen. Die Zerrissenheit ihrer Figur transportiert Blanchett höchst einfühlsam zum Zuschauer. Als größere Überraschung darf allerdings Rooney Mara gelten. Sie steht der Grand Dame der Schauspielerei in nichts nach. Als von der Liebe überrumpelte junge Therese ist sie viel eher Identifikationsfigur, als die erfahrene Carol. Diese Last ist ihr jedoch niemals anzumerken, Mara überzeugt mit auf den ersten Blick sehr zurückgenommenem Habitus, offenbart jedoch das gesamte chaotische Innenleben ihre Figur durch eine präzise Mimik. Allein die finale Szene des Films ist diesbezüglich höchster Genuss fürs Auge. Passenderweise war es auch die junge Amerikanerin, die die silberne Palme in Cannes für ihre Leistung erhielt. Ein weiterer großartiger Aspekt an Carol verdanken wir der Arbeit von Regisseur Todd Haynes (I'm not there) und Drehbuchautor Phyllis Nagy, der hier den Patricia Highsmith Roman Salz und sein Preis adaptierte. Denn zu keiner Zeit verkommt Carol zu einem Portait zweier Vorkämpferinnen, es gibt keinen feministischen Auftrag, keine brutalen Ehemänner, denen die Protagonistinnen entfliehen müssten, Carol bleibt von Minute 1 bis 118 eine im positiven Sinne herzergreifende Liebesgeschichte. Die höchst sinnliche Erfahrung, zu der sich dieser Film entwickelt, entsteht jedoch vor allem durch die gezeigten Bilder. Nahezu jede Einstellung von Chef-Kameramann Edward Lachmann (hierzulande unter anderem bekannt durch seine Arbeit mit Wim Wenders, Werner Herzog und Ulrich Seidl) ließe sich in ein beeindruckendes Gemälde wandeln. Stets fokussiert sich die Perspektive auf die Gesichter der Hauptdarstellerinnen und wird so unmittelbarer als in den meisten Filmen zum sprichwörtlichen Fenster in die Seele. Dazu leisteten Set-Designer und Kostümbildner herausragende Arbeit und vermitteln ein glaubhaftes Bild der 50er Jahre. Gemeinsam mit der schwelgerischen Musik von Coen-Brüder-Stammkomponist Carter Burwell, die mich auch nach dem Kinobesuch noch lange schwärmen ließ, entsteht so ein enorm vielseitiges Bild einer schwierigen Liebe. Carol wird durch seinen künstlerischen Anspruch zweifellos kein großes Publikum finden. Doch als Film, der in der kommenden Award-Saison ein gewaltiges Wörtchen mitsprechen dürfte, hat er jeden einzelnen Zuschauer verdient.

9/10

Für Fans von: Blau ist eine warme Farbe, Kill your Darlings

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