Montag, 25. Januar 2016

Die Kinnlade fällt herunter




Anomalisa

Das Fregoli-Syndrom bezeichnet eine psychische Wahrnehmungsstörung, die Betroffene, meist einhergehend mit einer Form der Schizophrenie, daran glauben lässt, ihr bekannte Personen würden nach optischer Veränderung in anderen Körpern wieder in ihr Leben treten. Passenderweise war der Namensgeber dieser Erkrankung, der Italiener Leopold Fregoli, ein international bekannter Verwandlungskünstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Charlie Kaufman schrieb darüber hinaus das Theaterstück, auf dem Anomalisa nun beruht, unter dem Pseudonym Francis Fregoli. 11 Jahre nach dem Erscheinen dieses Werkes bringt Kaufman nun dessen Filmfassung in die Kinos. In einem universellen Lehrstück, das die ewige Gleichmacherei, die innere Einsamkeit unter Vielen und die Illusion der wahren Liebe behandelt, folgen wir dem Motivationsredner Michael Stone, der auf einer Vortragsreise Lisa kennenlernt. Unter all den, in Michaels Wahrnehmung identischen, Personen in seinem Umfeld, sticht sie heraus. Sie wird seine Anomalisa. Anomalisa unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von Kaufmans bisherigen Werken. Ob als Drehbuchautor oder Regisseur, Being John Malkovich, Vergiss mein nicht und Adaption behandelten zwar ebenfalls allgegenwärtige, psychologische Probleme des menschlichen Zusammenlebens, begeisterten aber zusätzlich durch überraschende Wendungen und verschachtelte Erzählweisen. Anomalisa nun ist enorm geradlinig erzählt (einzige Ausnahme: eine phänomenal lustige Traumsequenz). Der inhaltlichen Tiefe des Streifens kommt dies allerdings zu Gute. Der Zuschauer identifiziert sich sofort mit der tragischen Figur des Michael Stone und begleitet ihn durch alle Höhen und Tiefen in kurzweiligen 91 Minuten Laufzeit. Neben der thematischen Qualität überzeugt Anomalisa auch auf technischer Ebene, die ebenfalls ein Novum in Kaufmans Schaffen darstellt. Der Film wurde komplett im Stop-Motion-Verfahren gedreht. Anders als die Knethühner aus Chicken Run, oder die beweglichen Puppen aus Nightmare before Christmas ließ Kaufmann alle Figuren mittels 3D-Druckern erstellen. Gemeinsam mit der für Stop-Motion-Verhältnisse überragenden Kameraarbeit (teilweise ist nicht nachzuvollziehen, wie lange Shots, Spiegelungen o.ä. mit der eigentlich Bild für Bild entstehenden Inszenierungstechnik realisiert wurden) ist Anomalisa so wahres Augenfutter. Zusätzlich profitiert der Film von der genialen Idee, alle Charaktere mit Ausnahme von Michael und Lisa mit fast identischen Gesichtern und der gleichen Stimme (im Original: Tom Noonan, in der deutschen Synchro: Christian Weygand) darzustellen. Selten wurde die Liebe besser als Befreiung aus Gewöhnlichkeit und Melancholie greifbar gemacht. Anomalisa wird mit Sicherheit kein großer Erfolg an den Kinokassen beschert sein, doch wer sich an etwas abseitigen, existentialistischen Filmen erfreut, dem sei dieses cineastische Kleinod wärmstens empfohlen. Achja, das Hotel, in dem Anomalisa zum Großteil spielt, trägt den Namen Il Fregoli .

8/10

Für Fans von: Lost in Translation, Vergiss mein nicht

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