Donnerstag, 16. März 2017

Holländische Provokationen



Elle

Mit 77 Jahren ein fulminantes Comeback feiern, darf selbst im Falle des europäischen Starregisseurs Paul Verhoeven als Überraschung gelten. 10 Jahre nach seinem letzten (fiktiven) Film und Dekaden nach seinen Meisterwerken Robocop, Basic Instinct und Starship Troopers erwacht der Niederländer aus dem, was allgemein als Ruhestand gewertet wurde. Doch Elle ist keinesfalls ein gediegenes Alterswerk. Der unberechenbare und Genregrenzen sprengende Psychothriller ist ein sauvergnüglicher Schlag in die Magengrube. Allen voran ist es die französische Schauspiellegende Isabelle Huppert, die als Softwareentwicklerin Michelle alle Register ihres Könnens zieht und dem Zuschauer gemeinsam mit den Wendungen des fintenreichen Drehbuchs genüsslich vor den Kopf stößt. Denn Michelle reagiert nach einer Vergewaltigung nicht so, wie es üblich erscheint. Nachdem sie den Strafverfolgungsbehörden die Schuld an einer Jahrzehnte langen, öffentlich Hetzjagd gegen ihre Person gibt (der Handlungsstrang um die Vergangenheit von Michelles Familie ist schlicht genial in das Gesamtgeschehen eingewoben), macht sie einfach nichts. Langsam, aber mit voller Wucht entblättern sich in den 126 Minuten Laufzeit sodann Facetten und Schichten von Michelles Charakter, die zusätzlich zu diesem scheinbaren Affront gegen sich selbst und die Gerechtigkeit, eine der vielseitigsten Figuren der jüngeren Kinogeschichte entstehen lassen. Was mich nach dem düsteren Rape-and- Revenge-Thriller der ersten halben Stunde besonders beeindruckt hat, waren die Wechsel Verhoevens innerhalb verschiedener Filmstile. Mit der Zunahme an handelnden Personen entspinnt sich aus der Grundgeschichte von Elle eine schamlos unterhaltsame Gesellschaftssatire. So bleiben vor allem Christian Berkel als Michelles egomanischer Liebhaber und Judith Marge als deren völlig absurd charakterisierte Mutter aus einem tollen Ensemble im Gedächtnis. Mit solch abnormen Figuren und brilliant komischen Dialogen entführt uns Elle schließlich in eine Welt ohne jegliche Moral. Mit vielen Anleihen an die amerikanische Pulpkultur entfernt sich der Film schließlich immer weiter vom zu Beginn erwarteten Whodunit-Plot. Denn wer für die Vergewaltigung verantwortlich war, spielt letzten Endes kaum noch eine Rolle. Es sind die Themen sexuelle Überlegenheit, Vergangenheitsbewältigung und welchen Platz die moderne Frau in der modernen Welt innehat, die Elle abgehandelt haben wird. Und dies alles mit doppelten Böden, einer großartigen Isabelle Huppert und einem Paul Verhoeven, der sich mit seinem ersten französischsprachigen Film auf der Höhe der Zeit zeigt. 

8/10

Für Fans von: Gone Girl, Die Klavierspielerin

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