Donnerstag, 26. November 2015

Der Teil mit dem Krebs



Ich & Earl & das Mädchen

Im vergangenen Jahr war es Whiplash, der mit einer eigenständigen Idee und viel Herzblut beim Sundance-Festival groß abräumte. Whiplashs anschließende Erfolgsgeschichte bei den Oscars ist heute längst legendär, doch auch 2015 gewann beim weltgrößten Independentfilmfestival ein Streifen mehrere Preise, der unerwartet positiv von Publikum und Kritikern aufgenommen wurde. Ich & Earl & das Mädchen ist die Romanverfilmung von Jesse Andrews Debüt Me & Earl & the dying girl aus 2012. Auch die deutsche Übersetzung des Buches trug folgerichtig den fast schon lyrisch anmutenden, die Stimmung der Geschichte aber toll aufnehmenden Titel, Ich & Earl & das sterbende Mädchen. Der drohende Tod ist in der Storyline auch der treibende Aspekt, sodass sich mir absolut entzieht, warum Fox den deutschen Verleihtitel mal wieder so abschwächt. Das Beeindruckende an dieser Tatsache ist allerdings, dass dieses Manko, das dem Film selbst nicht vorzuwerfen ist, nahezu die einzige Schwäche eines großartigen Coming-of-Age- Dramas wurde. Die Geschichte des Highschool-Schülers Greg, der seine Freizeit gemeinsam mit seinem besten Freund Earl dem Nachdrehen von Filmklassikern widmet, bekommt einen entscheidenden Einschnitt, als er von seiner Mutter gezwungen wird, sich seiner an Leukämie erkrankten Nachbarstochter anzunehmen. Fortan begeistert Ich & Earl & das Mädchen besonders durch das Zusammenspiel der beiden Jungdarsteller Thomas Mann und Olivia Cooke, die beide auch in langen, schnittfreien Sequenzen durch ihren intensiven Ausdruck überzeugen. Ihr einfühlsames Miteinander überträgt sich anstandslos auf den Zuschauer, der generell nie durch Fremdschämmomente und triefenden Kitsch den Anschluss zu den Protagonisten verliert. Das Drehbuch bietet dazu punktierte Dialoge und eine vielschichtige Entwicklungsstory, die das Erwachsenwerden niemals als reine Abhandlung spezieller Ereignisse darstellt. Ich & Earl & das Mädchen ist zusätzlich in vielerlei Hinsicht ein absolutes Highlight für Filmbegeisterte. Wenn Greg und Earl Filme wie A Sockwork Orange oder 2:48 pm Cowboy drehen, Regisseur Alfonso Gomez-Rejon mehrfach das europäische Kino zitiert (er scheint einen besonderen Gefallen an den Werken von Klaus Kinski und Werner Herzog gefunden zu haben), oder Klassiker der Filmmusik in den Streifen integriert werden, hüpft das Herz eines jeden Kinofreundes vor Begeisterung. Dazu ließ sich Gomez-Rejon spürbar von den Werken Wes Andersons inspirieren. Kostüme und Set-Design sind an Skurillität kaum zu überbieten und tragen so beachtlich zur lakonischen Grundstimmung bei. Außerdem überrascht Ich & Earl & das Mädchen wiederholt durch unerwartete Kameraarbeit und den Einsatz von Stop-Motion-Technologie, die zusätzlich das Amateurfilmertum der titelgebenden Jungen feiert. Mit Nick Offerman (Parks & Recreation, 21 Jump Street) und Jon Bernthal (The Wolf of Wall Street, Herz aus Stahl) konnten dazu zwei bekannte Gesichter verpflichtet werden, die in ihren Nebenrollen als Gregs Vater beziehungsweise Geschichtslehrer für die meisten Lacher sorgen. Ich & Earl & das Mädchen kann über die gesamte Laufzeit von 108 Minuten glänzen. Weder inhaltlich noch tonal gibt es in der sensiblen Kombination aus Außenseiterkomödie und Krebsdrama Verfehlungen irgendwelcher Art. Herzhafte Schenkelklopfer und zu Tränen rührende Dialoge ergänzen sich hier hervorragend. Ein bewegender Film.

9/10

Für Fans von: Margos Spuren, Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Juno

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